Erinnerungen von Günter Lack, Hufe I

Als Auszug aus einem längeren Bericht von Günter Lack [24], hier der Zeitpunkt nach dem Eintreffen der Familie am Bahnhof Reddelich. (Lt. Meldebuch Bad Doberan [02] am 05.02.1945). Die Flucht begann im Heimatort Memel, Einschiffung in Gotenhafen über die Ostsee nach Sassnitz und schließlich nach Reddelich und endete in Glashagen auf den Hof I beim Bauern Eimterbäumer:

Die Familie Eimterbäumer half uns. Mal gab es etwas Milch oder Mehl, auch etwas vom selbstgebackenen Brot oder vom eingelagerten Obst. Auch Kartoffeln konnten wir uns holen und Heizmaterial. Meine Mutter hat im Haushalt und im Stall geholfen.

Der Hof lag abseits vom Dorf Glashagen und auch von der Chaussee, die nach Retschow führt. Er war zu dieser Zeit noch nicht an das elektrische Netz angeschlossen. Nach ein paar Wochen der Ruhe und Erholung sollte ich wieder zur Schule gehen. Glashagen hatte eine Schule, einen Klassenraum und einen Lehrer. Herr Buß war damals der Lehrer. Mit dem Schulbesuch wurde es aber nichts, denn inzwischen waren weitere Flüchtlingsfamilien in Glashagen untergebracht. Die Einwohnerzahl hatte sich von 235 auf 335 Einwohner erhöht. Ein Schulunterricht für alle Kinder war unter diesen Bedingungen nicht möglich. Deshalb wurden erst mal die Flüchtlingskinder vom Unterricht befreit. Sie hatten ja auch schon viel Unterrichtsstoff versäumt.

Kriegsende

In Glashagen, auf dem Hof Eimterbäumer, erlebten wir das Ende des Krieges. Zu dieser Zeit lebten auf dem Hof die Familie Eimterbäumer mit fünf Kindern, alles Mädchen. Dann vier Flüchtlingsfamilien mit Kindern (Lack, Arndt, Klauer und Molkentin). Zwei erwachsene Mädchen, die ihr Landjahr ableisteten und ein Mann. Die polnischen und russischen Zwangsarbeiter hatten sich abgesetzt. In vertraulichen Gesprächen hatten die russischen Arbeiter, vor dem was kommt, gewarnt. Plötzlich war der Zeitpunkt da, der schlagartig alles veränderte. Die Truppen der Roten Armee rückten in Glashagen ein.

In der Geschichte der Stadt Bad Doberan ist nachgewiesen: Am 3. Mai 1945 gegen 11.00 Uhr erreichte eine Panzerspitze der Sowjet Armee die Stadt. Um 15.00 Uhr folgte eine größere Vorhut.

Wir haben in Glashagen in den frühen Abendstunden gehört, wie die Panzer auf der F105 in Richtung Kröpelin – Wismar gefahren sind. Aus dem Erlebten kann ich schlußfolgern, daß am 4. Mai, in den Vormittagsstunden aus Richtung Retschow kommend sowjetische Truppen in Glashagen eingetroffen sind. Der Krieg war für uns aus!

Die Angst aber war groß, alles war ungewiß. Was würde mit uns geschehen?

Der erste Tag brachte für alle, die auf diesem Hof lebten, schlimme Erlebnisse. Die Soldaten kamen auf Pferdefuhrwerken und auf Pferden geritten. Einige von den Erwachsenen wurden teilweise auf brutale Art verhört. Frauen und Mädchen versteckten sich, manche wurden von den Russen gefunden. Es wurde auf das Vieh geschossen und geplündert.

Wir Kinder konnten vieles von dem, was wir sahen, nicht verstehen. Immer dann, wenn etwas Ruhe einzog, trafen die Erwachsenen, unter größter Vorsicht, weitere Vorbereitungen für eine Flucht. Einiges war bereits auf Grund der Warnungen der russischen Arbeiter in die Wege geleitet. Es wurden Lebensmittel, Decken, wichtiges persönliches Hab und Gut beiseite geschafft. Alle Bewohner waren informiert und vorbereitet. Bei Dunkelheit sollte der Abmarsch über die Felder in den nahe gelegenen Wald erfolgen. Das alles wurde mit großer Umsicht von Herrn Eimterbäumer organisiert.

Dann war es soweit, der Abmarsch begann und genau in diesem Moment erreichte eine weitere Einheit der Armee den Hof. Schlimmes Geschehen spielte sich ab. Verhöre, Vergewaltigungen, Schläge, Drohungen mit Erschießen. Dann zogen sie wieder weiter. In der Dunkelheit verschwinden wir über die Felder in den Wald. Noch in der Nähe des Hofes bekommen wir mit, dass wieder eine Einheit auf den Hof einrückt. Wir aber sind schon im Schutz der Dunkelheit.
Vier oder fünf Tage haben wir alle gemeinsam im Wald verbracht. Die Regeln waren streng, aber sicherlich der Situation in der wir waren angepasst. Absolute Ruhe, vom Aufenthaltsort nicht entfernen, Lebensmittelrationen. Der Durst und die Mücken im Wald machten uns am meisten zu schaffen. Die Männer schlichen sich in der Abenddämmerung und im Morgengrauen in die Nähe des Hofes und des Dorfes, um das Geschehen zu beobachten. Manches Mal brachten sie frische Milch für die Kinder mit. Es war ihnen dann gelungen, eine Kuh einzufangen und zu melken. Als sich die Situation nach vier bis fünf Tagen beruhigt hatte, kehrten wir wieder auf den Hof zurück.

Was wir auf dem vormals außerordentlich gut gepflegten Bauernhof vorfanden, ist kaum zu beschreiben. Sinnlose Zerstörungen, kein Geflügel, kein Schwein, kein Pferd. Nur einzelne Kühe waren auf der Koppel. Im Inneren des Wohnhauses sah es aus , nicht zu beschreiben.

Die Frauen machten sich sofort daran, um alles zu reinigen und alles, was nicht mehr zu gebrauchen war, wegzuschaffen. Wir Kinder halfen tüchtig mit, denn jede Hand wurde gebraucht. Die Männer waren damit beschäftigt, den Hof und die Stallungen aufzuräumen.

Am Abend, im Haus war schon Ruhe eingetreten, kam wieder eine Gruppe russischer Soldaten auf den Hof. Sollte wieder alles von neuem beginnen? Alle Einwohner des Hauses wurden zusammengerufen. Sie trafen sich verängstigt in einem großen Zimmer. Ein Offizier im Range eines Kapitäns [Hauptmann] erklärte uns, dass seine Einheit ab sofort auf dem Hof für einen längeren Zeitraum Quartier nehmen wird. Meine Mutter konnte die russische Sprache ganz gut und nahm deshalb die Übersetzung vor. Es folgte eine Besichtigung und Aufteilung der Räumlichkeiten. Die Offiziere beanspruchten nur zwei Zimmer. Die Soldaten schliefen in der Scheune. Am anderen Morgen dann ein sehr vorsichtiges Abtasten mit den uns völlig fremden Menschen und unter dem Eindruck des bisher Erlebten. Nach den ersten Kontakten schmolz langsam das Eis. Wir Kinder standen gleich im Mittelpunkt. Erste Versuche der sprachlichen Verständigung. Die Soldaten gaben uns Brot und steckten uns auch ein paar Würfelzucker zu. Ein Friseur fand sich auch, der uns die Haare geschnitten hat. Keine Glatze, sondern einen Schnitt, wie wir ihn trugen.

Auf dem Hof wurden dann ein medizinischer Punkt für Pferde und eine Schmiede eingerichtet. Wir staunten, als in den darauffolgenden Tagen hunderte Pferde auf den Koppeln waren. Die Pferde wurden, soweit nötig, von einem russischen Tierarzt medizinisch behandelt. In der Schmiede wurde Hufbeschlag vorgenommen. Bald waren wir mitten im bunten Treiben. Im Dorf Glashagen waren überall russische Soldaten. Im Wald war eine größere Einheit in Richtung Reddelich in Stellung gegangen. Die Unterbringung erfolgte in Baracken an der Waldkante zum Dorf Glashagen. Auf dem Forsthof war eine Kommandantur eingerichtet und auf dem Gut Glashagen eine große Feldküche stationiert.

Wir waren dabei, wenn Essen geholt wurde, halfen ausgebrochene Pferde einzufangen und vieles mehr. Die Einheit auf dem Hof versorgte sich meistens alleine. Es waren ja nur etwa 10 Leute. Meine Mutter hat dann gekocht, die Naturalien besorgten die Soldaten. Manch Mal wurde ein Schwein geschlachtet und dann gab es auch Pelmeni [fleischgefüllte und in Brühe gegarte Teigtaschen].

Mitte August wurden die russischen Einheiten aus Glashagen abgezogen. Die kleine Einheit, die auf dem Hof Eimterbäumer stationiert war, kam nach Bad Doberan und war eine Zeitlang auf dem Hof bei Schmiedemeister Graf. Heute hat dort die WIG ihren Sitz. Herr Eimterbäumer erhielt von den Russen als Dank und Entschädigung vier Pferde. Eine große Geste und Hilfe. Als etwa 14 Tage später eine russische Streife die Pferde wegnahm, hat meine Mutter entscheidend geholfen, dass die Pferde wieder zurückgegeben wurden.

Ich erinnere mich noch an eine Aktion, die unmittelbar nach dem Abzug der Einheiten aus Glashagen durchgeführt wurde. Alle größeren Kinder des Dorfes beräumten die Getreideschläge, die entlang des Waldes lagen, von allerlei Gerätschaften, Schrott usw., damit die Bauern das reife Getreide ungehindert mähen konnten. Die Aktion wurde geleitet von Hans Uplegger und Hermann Sommer. Beide waren wohl als Hilfspolizisten eingesetzt.

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